Was ist denn die Arbeitswelt von heute? Fragen Sie sich bitte selbst, wie Sie Ihren gegenwärtigen Job bewerten würden. In meiner Zeit als Personalleiter stellte ich in Bewerbungsgesprächen routinemäßig die Frage, wie viel Prozent ihres Potenzials Bewerber*innen im aktuellen Job ausleben können. Die Antworten waren dermaßen erschütternd, dass ich mich ab diesem Zeitpunkt intensiver mit Arbeitsbedingungen und Arbeitsmotivation zu beschäftigen begann. Keine einzige Antwort lag höher als 50 %. Wenn Menschen am Arbeitsplatz ihre Potenziale nicht leben können, dann wirkt sich das mannigfaltig auf ihr gesamtes Leben aus. Es kommt zu Kompensationsaktivitäten wie eine intensive Freizeitgestaltung (z. B. Leistungssport als Hobby) oder verstärkter Alkoholkonsum, aber zumindest zu einer starken Trennung zwischen Arbeit und Freizeit. Frithjof Bergmann nannte diese Art der Arbeit eine „milde Krankheit“. Man kämpft sich schon noch bis zum Wochenende durch, erst dann beginnt die schöne Zeit des Lebens. Ist das aber unser Anspruch an die Arbeitswelt? Wollen wir Arbeit als (milde) Krankheit sehen? 

Ich sage ganz klar NEIN!
Wir genießen in unserer westlichen Welt die größte soziale Mobilität, aber die Wahl des Arbeitsplatzes beginnt für Lehrlinge meist schon im Alter von 15 Jahren, spätestens aber mit 18 Jahren nach einer Matura. Wissen wir in diesem Alter bereits genug, um so eine fundamentale Entscheidung treffen zu können? Nach der ersten Ausbildung sind Veränderungen in der Karriereplanung oft nur schwer möglich. Als ich nach meiner Lehre eine Abend-HTL besuchte, wurde mir vom AMS mehrfach angedroht, das Arbeitslosengeld zu streichen, weil ich durch die Anreise von Schörfling in die HTL nach Linz bereits ab 15.00 Uhr für keine Erwerbsarbeit zur Verfügung stehen konnte. Somit war ich als Elektriker nicht voll vermittelbar. Zum Glück gibt es heute wesentlich mehr Möglichkeiten, den beruflichen Weg zu verändern. Dennoch fehlt vielfach der Mut, sich beruflich neu zu orientieren, und oft scheitert es auch an finanziellen Möglichkeiten.

Gemäß unserer Auffassung von einer neuen Arbeitswelt wird versucht, die Potenziale der Mitarbeiter*innen zu entfalten. Arbeit soll als etwas Sinnstiftendes und Erfüllendes aufgefasst werden, wodurch auch sichergestellt ist, dass es einen Eigenantrieb gibt. Das erfordert auch eine Flexibilisierung der Rahmenbedingungen von Arbeit. Ich persönlich kann beispielsweise abends besser arbeiten als morgens. Eine Arbeitswelt von morgen begegnet dem arbeitenden Menschen auf Augenhöhe und verabschiedet sich vom Bild des „unselbstständigen Arbeitnehmers“. Viele Unternehmen funktionieren wie Diktaturen, doch pyramidale Strukturen verlaufen nur top-down. Seien wir dankbar, dass diese Regelung bei Einsatzorganisationen existiert. Aber in den meisten Fällen ließen sich demokratische Modelle für die Steuerung von Unternehmen finden. Freilich ist das komplexer und aufwändiger, das sieht man auch an demokratischen staatlichen Systemen. Doch arbeitende Menschen können vielmehr als nur sich selbst und auch ihr Leben organisieren oder ehrenamtlich Vereine verwalten! Trotzdem werden sie in (alten) Unternehmen wie unmündige Bürger behandelt, denen man Informationen vorenthalten muss und denen man genau sagt, was sie wie zu erledigen haben.

Eine Arbeitswelt von morgen macht Unternehmen stärker, unabhängiger, wesentlich resilienter und kreativer.
Unser Bild einer Arbeitswelt von morgen gibt dem Menschen mehr Souveränität und damit auch eine höhere Eigenverantwortung und Entscheidungskompetenz. Nur so kommen sie an ihre eigenen Potentiale heran: durch Fehler und deren Behebung, durch das „Sich-Trauen“, mutig einen Schritt zu wagen, der vorher noch nie gegangen wurde. Eine Arbeitswelt von morgen macht Unternehmen stärker, unabhängiger, wesentlich resilienter und kreativer. Das fördert auch die Persönlichkeitsentwicklung eines jeden Einzelnen. Wir wollen couragierte Personen, die ihre Eigenmacht verwenden, um sich für das Wohl des Ganzen einzusetzen, die über den Tellerrand blicken und wertvolle Partner der Führungsmannschaft sind. Dann wird Arbeit zu einer freudigen Angelegenheit, zu einem Flow-Effekt, zum IKIGAI, zu einer Berufung oder bei Selbstständigen zu einem Lebenswerk.

If you want to be a Hero, well just follow me“ (John Lennon aus dem Lied Working Class Hero).

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